Den Verlierern eine Stimme geben – Melisa Erkurts „Generation Haram“

Eine Rezension von Angelina Mehler

„Jetzt sind die Verlierer dran mit reden“ – so schreibt es Melisa Erkurt in „Generation Haram – Warum Schule lernen muss allen eine Stimme zu geben“. Mit kritischem Blick und beruhend auf ihren eigenen Erfahrungen zeigt die Lehrerin und Journalistin, die selbst bosnische Wurzeln hat, Problemfelder auf, wo das Bildungssystem in Österreich Chancengleichheit verhindert, und unterbreitet Veränderungsvorschläge, wie Schule gestaltet werden sollte, um unabhängig vom ethnischen und sozioökonomischen Hintergrund gleiche Bedingungen für alle zu schaffen.

„Gewinner und Verlierer“- Metapher

Die Verlierer, so Erkurt, sind im österreichischen Bildungssystem die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die zum Teil nur unzureichend Deutsch reden, noch nie ein Buch in der Hand gehalten haben, von zuhause keine Unterstützung erhalten (können) und bei denen das Geld für Nachhilfe fehlt. Schüler*innen, die teils in einer „Doppelrolle“ die eigenen Eltern bei Amtsgängen unterstützen oder die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister übernehmen müssen. Dem gegenüber stehen die Kinder und Jugendlichen aus autochthonen, gut situierten Elternhäusern, die sich dem Beistand zuhause sicher sein können.

Bildung wird vererbt – Chancenungleichheit

In Österreich ist der Bildungsgrad der Eltern häufig ausschlaggebend dafür, welche Schule die eigenen Kinder besuchen. So sei es für Hülyas schwieriger, die Matura anzustreben als für Annas: „Wenn man wie Hülya […] aufwächst, dann träumt man nicht groß. Unsere Eltern predigen uns, dass das Wichtigste ein Dach über dem Kopf und ein sicherer Job sei“ (S. 138). Insbesondere in Halbtagsschulen seien Eltern für den Bildungserfolg ihrer Kinder mitverantwortlich, so die Einschätzung Erkurts. Aus diesem Grunde ist einer ihrer Veränderungsvorschläge für das Bildungssystem, dass es kostenlose Ganztagsschulen geben müsse, um Chancengleichheit zu sichern.

Unzureichende Ausbildung der Lehrpersonen

Nach Erkurts eigener Erfahrung als Lehrerin an einer Wiener Schule verschärft sich das Problem, indem Lehrpersonen während ihres Studiums nur auf die Annas und Pauls vorbereitet werden, jedoch nicht lernen, wie sie Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund unterrichten können. Sie lässt in ihrem Buch verschiedene Lehrpersonen zu Wort kommen, die sich mit der Situation überfordert fühlen und sich trotz ihrer Bemühungen als Versager betrachten. Erkurt vertritt nachdrücklich die Ansicht, dass sich nicht die Schülerinnen und Schüler an das Schulsystem anpassen müssen, sondern umgekehrt die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen die relevanten Orientierungspunkte setzten sollten.

Ein weiteres Problem: Rassismus im Klassenzimmer

Erkurt malt ein düsteres Bild von Diskriminierung und Rassismus-Erfahrungen, denen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in österreichischen Klassenzimmern ausgesetzt sind, indem sie zu Experten ihrer Heimat gemacht werden, Position zur Kopftuchdebatte beziehen müssen, immer wieder mit der Frage „Woher kommst du wirklich?“ konfrontiert werden oder die Aussprache ihres Namens erklären müssen. Sie fordert: Die Schüler*innen mit Migrationshintergrund „sollten in der Schule einfach nur Kinder und Jugendliche sein dürfen, ohne der Neugier oder den Vorurteilen der Pädagoginnen und Pädagogen ausgesetzt zu sein“ (S. 72). Zudem brauche es nicht nur ein heterogenes und interkulturell geschultes Lehrerkollegium, sondern auch ein größeres Beraternetzwerk.

Erkurts eigene Erfahrungen

Viele Erfahrungen, die ihre Schüler*innen mit einem erschwerten Bildungsaufstieg und Rassismus machen, kann Erkurt nachempfinden, denn auch sie hat einen Migrationshintergrund: Ihre Mutter floh mit ihr, als sie noch ein Baby war, vor dem Jugoslawienkrieg von Bosnien-Herzegowina nach Österreich. „Du musst doppelt so hart arbeiten, um dieselben Chancen wie Österreicher zu haben“ (S. 39), sagte ihre Mutter zu ihr, als sie noch ein Schulkind war. Eindrücklich schildert Erkurt ihre eigenen Schwierigkeiten und gibt Einblicke in verschiedene Lebensabschnitte. „Der Weg hinauf ist geprägt von dem Gefühl, nie anzukommen, von Selbstzweifeln und Vorwürfen, seine Wurzeln verraten zu haben“ (S. 124). Trotz aller Widrigkeiten hat Erkurt es geschafft ihre Matura zu machen und Germanistik, Psychologie und Philosophie an der Universität Wien zu studieren. Sie ist eine preisgekrönte Journalistin und doch zählt sie sich nicht zu den Gewinnern, denn sie könne ihre Wurzeln nicht einfach vergessen und fühle sich eng mit den Schüler*innen verbunden.

Perspektivwechsel

Die verschiedenen Perspektiven der Autorin als Lehrerin, Journalistin und Mensch mit Migrationshintergrund machen das Buch sehr tiefgehend und informativ. Der persönliche Erzählstil und Einblicke in die Erfahrungen der Autorin in Kombination mit den eingebetteten Zitaten von weiteren Lehrpersonen regen immer wieder zum Nachdenken an. Viele Aspekte, die bezüglich des österreichischen Bildungssystems diskutiert werden, lassen sich auch in Bezug auf das deutsche Bildungssystem kritisch hinterfragen, denn auch in Deutschland ist es noch ein weiter Weg zur Chancengleichheit. Das Buch ist dabei hoch aktuell und relevant, indem es beispielsweise die Risiken der Corona-Pandemie für Bildungsungleichheit mit aufgreift. Vor diesem Hintergrund hat Erkurts „Generation haram“ das Potenzial, (angehende) Lehrpersonen für die Problemfelder des Bildungssystems „im Großen“ sowie in alltäglichen Situationen im Klassenraum „im Kleinen“ zu sensibilisieren.

Zum Buch:

Erkurt, Melisa (2020): Generation haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben. Wien: Paul Zsolnay Verlag.

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