Wer droht verlorenzugehen?
Die drei Risikolagen aus dem nationalen Bildungsbericht 2022

Ein Beitrag von Angelina Mehler und Janine Wolf

Mit dem Leitsatz „Niemand darf verloren gehen!“ fand 2010 die 11. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) statt. Mit dem Plädoyer für mehr Bildungsgerechtigkeit wurde dem Wunsch Ausdruck verliehen, die ungleichen Bedingungen im Bildungswesen nicht hinzunehmen, sondern Reformen einzuleiten, um Ausgrenzung zu verhindern.

Eine Möglichkeit, um datenbasiert Einsicht in die aktuellen Entwicklungen im deutschen Bildungssystem von der frühkindlichen Bildung bis hin zur Weiterbildung zu erlangen, stellt der nationale Bildungsbericht dar. Dieser erscheint alle zwei Jahre, wobei er zuletzt im Juni 2022 veröffentlicht wurde und wissenschaftliche Daten aus dem Jahr 2020 auswertet. Er zeigt, dass auch heute, 12 Jahre nach der 11. Synode, das Ziel der Bildungsgerechtigkeit weiterhin noch nicht erreicht ist. Vielmehr werden im Bildungsbericht drei Risikofaktoren ausgemacht, die Bildungschancen negativ beeinflussen und dazu beitragen können, dass jemand „verloren geht“: ein niedriger Bildungsstand der Eltern, die elterliche Erwerbslosigkeit und eine finanzielle Risikolage des Haushalts. Fast jedes dritte Kind war im Jahr 2020 von mindestens einem dieser Risikofaktoren betroffen, vier Prozent der Kinder von allen drei Risikolagen (vgl. S. 46). Damit das Ziel der Bildungsgerechtigkeit im Sinne der 11. Synode weiterverfolgt werden kann, können folgende drei Risikolagen als Ankerpunkte für die Tagung 2023 festgehalten werden:

Ein niedriger formaler Bildungsstand der Eltern liegt dann vor, wenn die Eltern keine abgeschlossene Berufsausbildung haben oder keine Hochschulreife vorweisen können. Problematisch kann dies für ihre Kinder sein, wenn ihnen somit außerschulische Unterstützungsmöglichkeiten fehlen. Die Zahl der betroffenen Kinder betrug 2020 ebenso wie im Jahr 2010 12 % und ist somit über die letzten Jahre stabil (vgl. S. 46).

Die elterliche Erwerbslosigkeit betrifft fast jedes 10. Kind. Wenn beide Eltern nicht arbeiten, dann fehlt dem Kind das soziale Netz, das nicht nur Unterstützung ermöglicht, sondern auch wichtige Kontakte auf dem Arbeitsmarkt bietet. Im direkten Vergleich mit den Daten aus dem Jahr 2010 ist keine Verbesserung eingetreten, sondern der Anteil der betroffenen Kinder ist stabil (vgl. S. 46/47).

20 % der Kinder sind von einer finanziellen Risikolage des Haushalts betroffen, womit diese Risikolage am häufigsten vorzufinden ist. Abhängig von der Haushaltszusammensetzung wird dabei bestimmt, ob das Haushaltseinkommen über oder unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze liegt. Statistisch gesehen steigt bei Familien mit mehreren Kindern mit jedem weiteren Kind das Risiko an, von einer finanziellen Risikolage betroffen zu sein. Dies ist insbesondere bei Alleinerziehenden festzustellen, wo 59 % der Kinder, die in einer Familie bestehend aus einem alleinerziehenden Elternteil und drei oder mehr Kindern aufwachsen, von dieser Risikolage betroffen sind (vgl. S. 47).

Wie schon in den Vorjahren zeigt sich auch im aktuellen nationalen Bildungsbericht, dass Kinder mit Migrationshintergrund besonders häufig von den Risikolagen für Bildung betroffen sind: 48 % von ihnen wachsen unter den Bedingungen mindestens einer Risikolage auf. Im direkten Vergleich mit Kindern ohne Migrationshintergrund zeigt sich ein deutlicher Unterschied, denn hier sind 16 % der Kinder betroffen. Blickt man auf Kinder, die allen drei Risikolagen ausgesetzt sind, dann sind Kinder mit Migrationshintergrund zu 8 % und Kinder ohne Migrationshintergrund zu 1 % betroffen. Besonders gravierend ist dabei die finanzielle Risikolage, die bei jedem dritten Kind aus einer Familie mit Migrationshintergrund besteht. Kinder von Eltern, die als Minderjährige nach Deutschland zugezogen sind, sind zu 46 % von mindestens einer Risikolage betroffen (vgl. S. 49). Im nationalen Bildungsbericht wird dabei betont, dass nicht der Migrationsstatus per se als Ursache für die Risikolagen anzusehen ist, sondern vielmehr mehrere „sozioökonomische[] Herausforderungen“ zusammenkommen (vgl. S. 52).

In Hinblick auf eine bundeslandspezifische Gesamtbetrachtung der Ergebnisse wird festgestellt, dass „nach wie vor die finanzielle Risikolage vorherrschend [ist], wobei Kinder von Alleinerziehenden und Kinder von Eltern, die erst im Erwachsenenalter nach Deutschland zugewandert sind, die höchsten Bildungsrisiken tragen. Diese Familienkonstellationen sind in den Stadtstaaten häufiger anzutreffen. Familien mit Migrationshintergrund leben darüber hinaus vergleichsweise häufig in den westdeutschen Flächenländern, sodass auch diese im regionalen Vergleich hervorstechen.“ (S. 49)

Im europäischen Vergleich liegt der Anteil von Kindern in Deutschland, deren Eltern formal gering qualifiziert sind, mit 13 % fast im EU-Durchschnitt, der 14 % beträgt. Auch in Bezug auf die Armutsgefährdungsquote liegt Deutschland mit 19 % der armutsgefährdeten Minderjährigen nahe am Durchschnitt von 20 %, wobei in Ungarn die Armutsgefährdungsquote 10 % und in Spanien sowie Rumänien 30 % beträgt. In Deutschland sind bei ca. 9 % aller Kinder die Eltern erwerbslos, womit sich keine gravierenden Unterschiede zu Ländern wie Irland, Italien, Frankreich und Bulgarien mit rund 10 % erwerbslosen Elternteilen zeigen (vgl. S. 50).

„Bildungsgerechtigkeit entscheidet sich am Anfang und verlangt erweiterte Förderung und Unterstützung – deshalb sind Eltern in ihrer Erziehungs- und Bildungsaufgabe zu stärken, denn Familie ist der erste und wichtigste Bildungsort.“ (Kundgebung der 11. Synode der EKD). So lautet eine der zentralen Thesen der EKD-Synode 2010, die angesichts der Ergebnisse des nationalen Bildungsberichts zu bekräftigen ist. Die drei analysierten Risikolagen machen deutlich, welche Rolle den Eltern und insbesondere deren eigener Ausbildung hinsichtlich der Bildungschancen für die Kinder zukommt. Wie können Eltern heutzutage in dieser „Erziehungs- und Bildungsaufgabe“ gestärkt werden? Welchen Beitrag kann und muss evangelisches Bildungshandeln hier leisten? Inwiefern spielt hier auch frühkindliche Bildung im Elementarbereich etwa in evangelischen Kindertagesstätten eine Rolle als Teil evangelischen Bildungshandelns?  Dies sind nur drei Schlaglichter, die auf der Tagung „Niemand darf verloren gehen…?“ im März 2023 diskutiert werden sollen. Viele weitere Impulse werden sicherlich aus den Ergebnissen von Studien wie dem nationalen Bildungsbericht hervorgehen.

Zitierte Quellen:

Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2022. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal, Bielefeld 2022. Online abrufbar: https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2022/pdf-dateien-2022/bildungsbericht-2022.pdf [Stand: 21.11.2022].

Evangelische Kirche in Deutschland: Kundgebung „Niemand darf verloren gehen!“ Evangelisches Plädoyer für mehr Bildungsgerechtigkeit der 11. Synode der EKD auf ihrer 3. Tagung. Online abrufbar: https://www.ekd.de/synode2010/beschluesse/5966.html [Stand: 21.11.2022].

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