Ein Rückblick auf die Tagung: Niemand darf verloren gehen …?

Jens Dechow & Juliane Ta Van

„Bildungsgerechtigkeit ist unvereinbar mit Ausgrenzung“ – dieses Plädoyer der 11. Synode der EKD aus dem Jahr 2010 hat auch ein gutes Jahrzehnt später nichts an Aktualität verloren. Pointiert und selbstbewusst wurde formuliert, dass ein Eintreten für und die Förderung von Bildungsgerechtigkeit zum evangelischen Selbstverständnis gehöre.

Ob und in welcher Weise dieser klare Selbstanspruch in der Dekade nach dieser Synode im kirchlichen (Bildungs-)Handeln aufgegriffen wurde und welche Entwicklungen sich in Bezug auf die Herausforderung Bildungsgerechtigkeit seitdem zeigen, hat jetzt eine vom Comenius-Institut initiierte und verantwortete Tagung unter dem Titel „Niemand darf verloren gehen …? Ausgrenzungen problematisieren – Bildungsgerechtigkeit fördern“ thematisiert, die am 3. und 4. März 2023 Vertreter:innen aus Erziehungswissenschaften, Soziologie und Evangelischer Theologie im Schloss der Universität Münster zusammenführte.

In Vorträgen, Workshops und einer Diskussionsrunde, die jeweils auch Raum für den Austausch der Teilnehmenden boten, wurde deutlich, dass ein Vorankommen im Bemühen um Bildungsgerechtigkeit nur mit Perspektivenvielfalt, wissenschaftsübergreifendem Handeln und einer Verzahnung aller Maßnahmen sowie Akteuer:innen gelingen kann.

Die Mehrperspektivität verdeutlichte sich auch im Kooperationscharakter der Tagung, die gemeinsam vom Comenius-Institut, dem ProViel-Projekt „Religion inklusiv“ am Lehrstuhl für Religionspädagogik der Universität Duisburg-Essen sowie dem Seminar für Praktische Theologie und Religionspädagogik der Universität Münster veranstaltet wurde.

Den Rahmen für die Tagung bildeten fünf der damaligen zehn Thesen aus der Kundgebung der EKD-Synode von 2010, auf die sich die Beiträge der Referent:innen (im Folgenden jeweils in Klammer vermerkt) bezogen.

Die zweite dieser Thesen der EKD-Synode von 2010 lautet: „Bildungsgerechtigkeit ist unvereinbar mit Ausgrenzung.“ Daran anknüpfend werden umfassende Neuansätze für inklusive Bildung und verstärkte Anstrengungen zur Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund einschließlich ihrer Familien gefordert. Wie bleibend relevant diese Konstatierungen sind, wurde in verschiedenen Beiträgen hervorgehoben. Unterschiedlichste Einflussfaktoren, so zeigte Gudrun Quenzel auf, wie z.B. die Kenntnisse der Eltern vom Schulsystem, Vorlesezeit im Kindesalter oder die Milieusensibilität des Unterrichts, wirken sich auf den Bildungserfolg aus und bedingen, ob dieser gering oder hoch ist. Deutlich wurde die Komplexität sowie die Notwendigkeit, Personen, die an Bildung beteiligt sind, miteinander zu vernetzen (Lilo Brockmann). Nur dann kann Ausgrenzung minimiert und Bildungserfolg ermöglicht werden. Bildungsungerechtigkeit ist dabei kein Versehen (Vera Uppenkamp), sondern Teil des Systems. Sichtbar wird dies bereits an der Sprache, wenn sie z.B. in Ausdrücken wie „bildungsfern“, „bildungsarm“ oder „abgehängt“ die Ausgrenzung sprachlich verstärkt.

Die fünfte These der EKD-Kundgebung betont, dass Bildungsgerechtigkeit auf eine umfassende personale Bildung zielt. Damit verbunden gehöre die religiöse, philosophisch-ethische und diakonische Dimension zum Kern des Bildungsauftrags einer jeden Bildungseinrichtung, um Sprach- und Dialogfähigkeit in religiösen und ethischen Fragen, Mündigkeit im Glauben sowie Mitempfinden und Mithilfe gegenüber dem Anderen zu fördern. Religionsunterricht als gleichberechtigter Fachunterricht und die wissenschaftliche Theologie als universitäre Wissenschaft seien dementsprechend unentbehrlich. Caroline Teschmer unterstrich in ihrem Beitrag die Bedeutung des Rechts des Kindes auf eine umfassende – und damit auch religiöse – Bildung. Ein Schlüssel zur Verminderung von Ausgrenzungserfahrungen und -dynamiken kann religiöse Bildung z.B. dann sein, wenn sie in Interaktionen Mit-Fühlen einübt und auf persönlicher Ebene ermöglicht, an Erzählungen anzuknüpfen, die dies schulen. Wichtig ist hierbei, dass das Mit-Fühlen die Personengrenze der Beteiligten wahrt. Frei zum Mit-Fühlen, ohne den Wert des Gegenübers in Frage zu stellen – das ist eine Kernfähigkeit, die eine freimachende, rettende Gerechtigkeit ausstrahlen kann (Stefan Heuser). Ausgehend von der Beobachtung, dass der Gerechtigkeitsdiskurs über der sozialen Wirklichkeit schwebe und nicht landen könne, müsse „rettende Gerechtigkeit“ als auf das Tun gerichtet verstanden werden und ein „sich Wahrnehmen“ und eine „Würde erleben“ ermöglichen.

Die siebte These der Synode 2010 lautet: „Bildungsgerechtigkeit widerspricht einer Geringschätzung von einzelnen Ausbildungs- und Studiengängen.“ Das müsse sich niederschlagen in gesellschaftlicher Wertschätzung und Förderung bezüglich sozialer und diakonischer Berufe gegenüber Handwerk oder Verwaltung; sowie hinsichtlich des Studiums in einem geistes- oder sozialwissenschaftlichen, musischen oder künstlerischen Studiengang gegenüber einem Studium in naturwissenschaftlichen oder technischen Studiengängen. Thematisieren müsse man, so zeigte es die Diskussion auf der Tagung, bereits die Geringschätzung bestimmter Schulabschlüsse. Einen Schulabschluss zu erwerben, der gesellschaftlich nur wenig anerkannt wird, ist für Schüler:innen höchst unattraktiv und wirkt sich negativ auf ihr Selbstkonzept und ihre Lebenszufriedenheit aus. Die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen weisen hohe Bildungsaspirationen für sich persönlich auf. Gleichzeitig erleben sie eine Entwertung der Schulabschlüsse und streben diese nicht mehr an (Gudrun Quenzel). Eine Änderungsdynamik, die auch kirchlicherseits aufgenommen werden kann, könnte diesbezüglich durch den sich abzeichnenden Fachkräftemangel ausgelöst werden und die gesellschaftliche Wahrnehmung der Bedeutung sozialer und handwerklicher Professionen verändern.

Die achte These der EKD-Kundgebung formuliert: „Bildungsgerechtigkeit fußt auf Professionalität.“ Damit verbunden sei eine qualitative, möglichst fachhochschulgestützte Ausbildung für Erzieher:innen, Gemeindepädagog:innen, Diakon:innen notwendig sowie eine verbesserte Lehrer:innenbildung, umfassende Fort- und Weiterbildung und eine entsprechende Gestaltung der Arbeitsbedingungen für Erziehende, Unterrichtende und Lehrende. Deutlicher ins Bewusstsein tritt aktuell, dass neben der Sensibilisierung und der besseren Ausbildung von Akteuer:innen auch eine systematische Erforschung von Ungleichheit und wirksamen Maßnahmen auf der Ebene der Einzelschulen dringend notwendig ist (Lilo Brockmann). Eine arbeitsbereichsübergreifende und interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglicht es sich über gemeinsame Ziele zur Förderung von Bildungsgerechtigkeit zu verständigen, sodass bereits einzelne Maßnahmen stärker in ein Gesamtkonzept integriert und angewendet werden können. Dazu braucht es in der Religionspädagogik, wie es Ulrike Witten konstatierte, ebenfalls Konzepte für Bildungsgerechtigkeit.

Wie wichtig und unerlässlich das Bemühen um mehr Bildungsgerechtigkeit trotz der genannten Schwierigkeiten ist, wurde nicht nur von Gudrun Quenzel unterstrichen, die darauf hinwies, dass nachweislich die Bildungserfahrungen der Kinder und Jugendlichen entscheidenden Einfluss auf ihre Lebensqualität haben. Bildung wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus, öffnet oder schließt Türen, sorgt für bessere oder schlechtere Möglichkeiten, das Leben selbstbestimmt zu gestalten. Kurz: Fehlende Bildung produziert Ungleichheit auf allen Ebenen.

Eine Kirche, die sich dem Grundsatz ‘Niemand darf verloren gehen!‘ verschreibt, wird die in dieser Tagung erneut sichtbar gewordenen Herausforderungen weiter bearbeiten müssen. Dann könnte es gelingen, dass dieser Grundsatz nicht rein appellativ bleibt, sondern für das eigene Bildungshandeln zu einem konsequent verfolgten Programm wird.

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